Bahnhofskino


Alles fing eigentlich ganz hamlos an:

Es ist 11:00 Uhr; Samstag. Das Telefon klingelt. Denis. Mal wieder hat er mich geweckt... Er sagt mir, dass er heute mit dem Zug aus Köln kommt. Wie so oft. Er fragt, ob ich ihn holen kommen kann. Na klar, sag ich... hmmm. Naja, eigentlich bin ich ja froh, wenn er mich besuchen kommt...

Nachmittags mach ich mich auf den Weg nach KA. Stell mein Auto ab und fahr den Rest mit der Tram; - wie immer. Noch einwenig Zeit. Trödle zum Bahnhof.

17:00 Uhr. Der Zug aus Köln ist da, Denis nicht. "Mist!", denk ich. "Ist er wieder erwischt worden". Denis lebt so zusagen auf der Strasse (jetzt gottlob nicht mehr); fährt immer schwarz. Anrufen kann ich ihn nicht. Er hat kein Telefon.

Also: warten... Der nächste Zug kommt in einer knappen Stunde.

Laufe etwas durch den Bahnhof. Viele Leute unterwegs heute. Lehne mich an eine Wand und träume vor mich hin...

Es kommt so ein alter Schleimbeutel auf mich zu; so um die 40. Er sagt mir, dass das Wetter schlecht ist. Fragt, was ich heute noch mache und zwinkert mit einem Auge... Geht ihm einen Scheissdreck an. Macht der alte Sack mich doch tatsächlich an. "Zisch ab!"

Ziehe meine Kappe tiefer ins Gesicht. Der Alte zieht weiter. Dann sehe ich ihn mit einem dunkelhaarigen Jungen schwätzen. Der Junge macht einen unsicheren, schüchternen Eindruck; könnte einer von der "Strasse" sein.

Der Alte geht Richtung Klo, der Junge folgt in sicherem Abstand. Wahnsinn! Am liebsten hätte ich den Jungen gestoppt, doch was soll`s... Keinen Mut? Keine Lust? Einige mich auf "nicht zuständig".

In der Wartehalle hat sich inzwischen ein Obdachloser niedergelegt. Das geht nicht lange gut. Protestierend tragen ihn zwei Beamten in grün zur Bahnhofsmission. Immer das selbe Spiel. Lustig lustig...

Die Stunde ist bald rum. Hoffentlich kommt Denis jetzt.

Da sehe ich wieder den Jungen von vorhin. Er wirkt extrem verstört. Er weiss, das ich gesehen habe, was abgeht. Ich kann nicht helfen, will auch nicht... "Mach`s gut, Junge", denke ich mir leise. Hoffentlich hat er kein Aids. Wäre schade mit 18. Meine Blicke scheinen ihn vor Scham zu töten. Sorry, "ich weiss von nichts..." Schaue trotzdem nicht weg!

Der Zug fährt ein. Kein Denis! Scheiße!

Vom Bahnsteig zurück zum Fahrplanständer in der Halle: nächster Zug in zwei Stunden. Ein ICE. Denis wird den kaum nehmen können. Trotzdem will ich warten, da der Junge sich bisher auch bei mir daheim nicht gemeldet hat. Hoffentlich ist alles OK!

Verlasse den Bahnhof. Will mir der Tram etwas durch KA fahren. Steige in einen Bus. Linie 47. Meine Karte gilt in 3 Zonen. Mal seh`n, wo die Reise hingeht.

Neben mich setzt sich ein junger Punk. Ein Junge? Ein Mädchen? Nicht zu erkennen. Haare 3mm, dazu lange, rote Mähne. Walkman. Was ist den heute los? Seh ich heute anders aus, als sonst? Nein, eher nicht. Muss am Wetter liegen; - es regnet. Mein Sitzpartner stiert mich an. Wieso setzt sich das "etwas" (sorry, nichts gegen Punks, aber ich weis ja nicht, welches Geschlecht sich da niedergelassen hat) genau neben mich? Es ist doch alles leer! "Was geht ab?" frag ich genervt und nun stellt sich heraus, das es ein "er" ist. So um die 16 und mit roten Backen wie Oma`s Lieblingsenkel; - es ist Winter.

Plaudern einwenig. Der Kerl wohnt noch zuhause, also garnicht so schlimm, wie es Denis erwischt hat... Erzähle ihm von Denis. Punk: "Cool!" Naja, ich weiss nicht...

Die Rundreise ist bald vorbei: "Nächster Halt: Hauptbahnhof" signalisiert die ELA-Anlage des Busses. Noch fünf Minuten, Gleis 2. Dann: schöner ICE, erinnert mich an meine geschäftliche Fahrt nach München vor ein paar Wochen. Kein Denis; klar!

Also: der nächtste Zug! 23:12, Bahnsteig 3. Hoffentlich ist Denis dabei. Sonst wird`s eng, denn es kommt dann nur noch der Nachtzug.

Es ist draussen schon dunkel. 20:23 Uhr. Ein riesiger Fernseher in der Bahnhofshalle zeigt ständig das selbe Programm. Immernoch viele Leute unterwegs.

Gönne mir einen Kaffee. Endlich was Warmes.

Gehe in den Buchladen und kaufe mir einen Stern. Kaufrausch? Mal seh`n,was drin steht...

Da treffe ich wieder zwei Punks an der Kasse; ältere diesmal. Stefan mit seiner Freundin, wie sich später herausstellt. Er kauft ein komisches Heft mit "Ketzerbriefen" oder so. Die Freundin zeigt spottend auf eine andere Lektüre, die im Kassenbereich ausliegt: "Karriere für junge Leute". Stefan meint, dass das ja genau das Richtige für ihn wäre und blickt besorgt daher. Muss hierbei an Denis denken. Stefan schmeisst tolpatschig meinen Stern runter. "Entschuldigung" sagt er. "Macht nichts", grinse ich zurück. Erzählen noch etwas... Nette Jugendliche, die zwei. Manch "Normale" können sich eine Scheibe davon abschneiden, aber das kenne ich ja...

Setze mich in den Wartebereich der Station. Es zieht und ist unbequem. Deshalb höre ich auch wieder auf, wie wild in meinem neuen Stern zu blättern...

Wie mag das Bahnhofskino hier weitergehen, frag ich mich, da fallen mir auch schon wieder zwei Teenies auf. Vielleicht 15. Ein kleiner schmächtiger Junge mit einer ziemlich kaputten Nylon-Jacke und einer schwarzen Mütze tief im Gesicht; die braunen längeren Haare schauen unter den Ohren wieder aus der Mütze hervor. Müsste mal wieder zum Frisör. Daneben ein etwas pummeliges blondes Mädel, eigentlich ganz normal. Hat so einen komischen Fummel an. Sie himmelt den Jungen an. Warscheinlich kommt nur er aus richtig schlimmen Verhältnissen...

Beide rauchen ganz cool eine Kippe. Danach irren sie ohne Ziel durch die Halle. Auf und ab. Das Wachpersonal hat sich bisher zurückgehalten. Die wollen wohl auch nicht jeden Scheiss machen.

Von aussen kommt ein älterer Jugendlicher dazu. Die Dreiergruppe geht hastig vor das Bahnhofsgebäude. Ich kann sehen, das "etwas" ausgetauscht wird. Drugs or Roch`n Roll?

Laufe etwas umher. Noch eine Stunde bis zur nächsten Zugankunft.

"Amigo" schallt es von hinten. Ein zimlich komischer Mann spricht mich an und will mir eine Fahrkarte andrehen. "Kein Bedarf!", sage ich. Doch der Kerl beginnt mir, ein Ohr abzuschwatzen. Seit drei Tagen ist er draussen, aus dem Knast. Jetzt will er nach München zu seiner Schwester. Na Prost! Da kommt schon wieder so ein kleiner, fetter Mann auf uns zu. "Habt ihr Feuer" fragt er. Gepflegt sieht er aus, ganz normal eben. Wieso fragt er nicht irgendwelche anderen Leute, sondern mich und den "Penner". Mir schwarnt schon wieder etwas. Ist heute wirklich alles so, wie immer? Da will Mann mir auch schon eine Zigarette andrehen. "Nichtraucher", sage ich genervt, denn Mann will mit mit ein Gespräch anfangen. Der soll mit dem Knacki schwäten, den lässt er jedoch nicht zu Wort kommen. Mann will, dass er geht. Stattdessen gehe ich! Pech gehabt, bin net schwul! (sorry Jungs, will euch nicht beleidigen, aber da wärt auch ihr wieder hetero geworden, schätz ich!)

Bekomme Hunger. Denke abwechselnd an die zwei Punks vom Buchladen und an Denis. "Mensch mein Junge, wo steckst du denn. Könntest dich ja wenigstens mal melden..." Merke, dass ich den Kerl eigentlich ganz gerne habe. Fast wie einen kleinen Bruder, seit dem er ab und zu bei mir wohnt...

Kurz in Gedanken versunken sehe ich schon wieder etwas, was mir an anderen Tagen nie aufgefallen wäre: Da kommt ein Typ so um die 22 in die Halle rein. Dunkelblonde, etwas gestellte und zerzauste Haare; Jeans. Ein Kumpel von mir würde sagen "Hmmm, ein Schnucki". - Schwul war er bestimmt. Und blutig im Gesicht. Schlägerei gehabt?

Ängstlich schleicht er auf und ab; schaut sich um, als erwartet ihn das jüngste Gericht. "Wieder ein Stricher", denke ich. Das hätte ich nie gedacht, das es sowas tatsächlich gibt. Extrem... Der Kerl tut mir leid. Erstaunt schaue ich ihn an; bestimmt 10 Minuten. Als sich unsere Blicke treffen, zucke ich etwas zusammen; ein eiskaltes Gefühl überkommt mich. Ich wollte den Jungen nicht durch meine fragenden Blicke auf mich aufmerksam machen. Bin halt neugierig.

Unsicher bewegt er sich nun auf mich zu. Was soll ich denn jetzt machen? Ich will den Jungen nicht verarschen, will aber auch nichts mit ihm zu tun haben...

Auf einmal dreht er erschrocken ab, rennt fast aus der Halle und beinahe noch in eine Hundeleine. Sekundenbruchteile später weiss ich, warum:

"SPIIILOOOOOOOOOOOOOOOOO!" schreit eine mir vertraute Stimme von hinten und ein schwerer Brocken springt auf mich los! Ich werde in meine Welt zurückgerissen und auch fast zu Boden; von Denis! So heftig ist mir seine Begrüßung noch nie vorgekommen. "Ich bin per Anhalter gekommen" erklärte er die Situation.

Völlig aufgeregt verlassen wir den Bahnhof und fahren nach Hause. Erst viel später erzählte ich meinem Freund, was ich erlebt habe...


Tja, ich denke, die Welt ist sehr vielfältig. Warscheinlich muss man nur die Augen öffen, damit man auch mal echtes "Bahnhofskino" erlebt. Es gibt sicherlich täglich neues Programm...

Nur Mut!


Spilo.


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